Emotionale Dysregulation (ED) ist ein Kernaspekt von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), der lange Zeit unterschätzt wurde. ED umfasst die Schwierigkeit, Emotionen angemessen zu regulieren, und hat oftmals starke Auswirkungen auf das soziale, berufliche und psychische Leben der Betroffenen. Trotz ihrer Relevanz wird ED oft nicht als zentrales Symptom von ADHS erkannt. Stattdessen wird sie häufig mit anderen psychischen Erkrankungen, insbesondere der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPD), verwechselt. Dies führt nicht nur zu Fehldiagnosen, sondern auch zu ineffektiven Behandlungsansätzen.

Was ist emotionale Dysregulation?
Emotionale Dysregulation beschreibt die Schwierigkeit, Emotionen effektiv zu steuern. Betroffene können Emotionen intensiver, schneller und länger erleben als andere Menschen. Bei ADHS umfasst ED:
Häufige und starke Stimmungsschwankungen: Betroffene wechseln schnell zwischen emotionalen Extremen wie Euphorie, Wut oder Traurigkeit.
Schwierigkeiten, ärgerliche oder impulsive Reaktionen zu kontrollieren: Kleine Auslöser können überproportionale Reaktionen hervorrufen.
Probleme, sich nach emotionalen Höhe- oder Tiefpunkten zu beruhigen: Die Rückkehr zu einer neutralen Stimmung dauert oft länger als bei Menschen ohne ED.
Laut der systematischen Übersichtsarbeit von Soler-Gutiérrez et al. (2023) tritt ED bei Erwachsenen mit ADHS mit einer Prävalenz von 34 bis 70 % auf. Diese breite Spanne zeigt meiner Meinung nach, dass ED ein wesentlicher Bestandteil der Störung ist, aber in der klinischen Praxis häufig unterschätzt wird.
Die Verbindung zwischen ADHS und ED
Eine zentrale Erkenntnis der Forschung ist, dass ED als viertes Kernsymptom von ADHS betrachtet werden sollte, neben Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Studien wie die von Soler-Gutiérrez et al. zeigen, dass ED eng mit impulsiven Verhaltensweisen, exekutiven Funktionsdefiziten und psychiatrischen Komorbiditäten wie Depressionen und Angststörungen verbunden ist.
Wie zeigt sich ED bei ADHS?
Impulsivität: Emotionale Reaktionen sind oft impulsiv und werden ohne bewusste Kontrolle ausgelebt.
Maladaptive Strategien: Menschen mit ADHS neigen dazu, maladaptive Bewältigungsstrategien wie Suppression oder Vermeidung einzusetzen, anstatt ihre Emotionen aktiv zu verarbeiten.
Langfristige Auswirkungen: ED wirkt sich negativ auf soziale Beziehungen, berufliche Leistungen und das allgemeine Wohlbefinden aus. Sie fördert auch das Risiko für Substanzmissbrauch und andere problematische Verhaltensweisen.
Geschlechterunterschiede
Frauen mit ADHS scheinen häufiger und stärker von ED betroffen zu sein als Männer. Dies könnte durch hormonelle Schwankungen, gesellschaftliche Erwartungen und ein höheres Bewusstsein für emotionale Prozesse bedingt sein. Laut Hirsch et al. (2023) zeigt Clusteranalyse, dass Frauen mit ADHS besonders anfällig für emotionale Dysregulation sind, was zu einer höheren Belastung führt.
Fehldiagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung
Eine der größten Herausforderungen in der klinischen Praxis ist die Unterscheidung zwischen ED bei ADHS und den Symptomen von BPD. Beide Störungen teilen Ähnlichkeiten wie emotionale Instabilität, Impulsivität und Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen. Dennoch gibt es klare Unterschiede, die oft übersehen werden:
Gemeinsamkeiten:
Emotionale Instabilität: Sowohl ADHS als auch BPD gehen mit schnellen und intensiven Stimmungsschwankungen einher.
Impulsivität: Beide Störungen zeigen impulsives Verhalten, das oft negative Konsequenzen hat.
Konflikte in Beziehungen: Schwierigkeiten, stabile und gesunde Beziehungen zu führen, sind bei beiden Störungen häufig.
Unterschiede:
Auslöser und Dauer: Bei ADHS sind emotionale Reaktionen oft kurzfristig und durch äußerliche Auslöser bedingt, während bei BPD tiefere emotionale Verwundbarkeit und langanhaltende Krisen typisch sind.
Selbstwahrnehmung: Menschen mit BPD haben oft ein instabiles Selbstbild und Ängste vor Verlassenwerden, während dies bei ADHS weniger ausgeprägt ist.
Selbstverletzendes Verhalten: Dieses ist bei BPD häufig, während es bei ADHS seltener vorkommt.
Die Fehldiagnose von ADHS als BPD hat gravierende Konsequenzen. Therapieansätze für BPD, wie Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT), sind oft weniger wirksam bei ADHS, da sie die neurobiologischen Grundlagen der Störung nicht berücksichtigen.
Neurologische Grundlagen der ED bei ADHS
Forschung zur neurologischen Basis der ED zeigt, dass Veränderungen in Hirnregionen wie dem präfrontalen Kortex und dem anterioren cingulären Cortex eine zentrale Rolle spielen. Diese Regionen sind entscheidend für die Regulation von Emotionen und die Kontrolle impulsiver Reaktionen.
Unterschiede in der Hirnaktivierung: Menschen mit ADHS zeigen eine geringere Aktivierung in Bereichen, die für Emotionskontrolle und Entscheidungsfindung zuständig sind.
Funktionelle Bildgebung: Studien mit fMRI und EEG belegen, dass die Verarbeitung emotionaler Reize bei ADHS anders ist als bei BPD. Diese Erkenntnisse könnten zukünftig helfen, die Diagnostik zu präzisieren und Fehldiagnosen zu reduzieren.
Therapeutische Ansätze zur Behandlung von ED bei ADHS
1. Psychotherapeutische Interventionen
Kognitive Verhaltenstherapie (CBT): CBT ist wirksam bei der Verbesserung von ED durch das Erlernen adaptiver Strategien wie Reappraisal (Neubewertung).
Mindfulness-basierte Interventionen: Achtsamkeitstraining hilft, Emotionen bewusster wahrzunehmen und zu regulieren.
Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT): DBT kann besonders bei starken Impulsivitäts- und ED-Symptomen hilfreich sein.
Systemische Therapie
Systemische Therapie bei ADHS und emotionaler Dysregulation
Die systemische Therapie betrachtet nicht nur das Individuum, sondern auch dessen Umfeld, einschließlich Familie, Freunde und soziale Beziehungen. Bei ADHS und ED kann dieser Ansatz besonders effektiv sein, da er die Wechselwirkungen zwischen dem Betroffenen und seinem Umfeld in den Fokus rückt.
Ein zentraler Aspekt der systemischen Therapie ist die Korrektur verzerrter Wahrnehmungen und Interpretationen des Verhaltens. Eltern von Kindern mit ADHS können beispielsweise durch seelische Belastungen in ihrer intuitiven Kompetenz eingeschränkt sein. Hier setzt die Therapie an, um stabile Kommunikationsmuster zu entwickeln und die emotionale Regulation zu fördern.
Zudem betont die systemische Therapie, dass ADHS nicht als Krankheit, sondern als Neurotyp mit Vor- und Nachteilen betrachtet werden sollte. Dieser Perspektivwechsel kann dazu beitragen, Stigmatisierungen abzubauen und individuelle Stärken zu fördern.
2. Medikamentöse Behandlungen
Stimulanzien: Medikamente wie Methylphenidat können nicht nur die Kernsymptome von ADHS, sondern auch ED verbessern.
Atomoxetin: Dieses Medikament zeigt positive Effekte auf die Emotionsregulation, insbesondere bei Patienten mit ADHS und hoher ED.
3. Sozialer und emotionaler Support
Aufbau stabiler Beziehungen, die Sicherheit und Unterstützung bieten, kann entscheidend sein.
Schulung von Eltern und Partnern, um besser mit der emotionalen Dynamik von ADHS umzugehen.
4. Selbsthilfestrategien
Emotionen erkennen und bennenn: Lerne, Emotionen zu identifizieren und präzise zu benennen. Das schafft Distanz und hilft, besser mit ihnen umzugehen. Erkenne die Auslöser deiner Emotionen. Führe ein Tagebuch, um Emotionen, Reaktionen und Situationen zu dokumentieren.
Distanz schaffen: Praktiziere Mindfulness, um im Moment präsent zu sein und Emotionen zu beobachten, ohne sie zu bewerten. Akzeptiere, dass alle Emotionen normal und notwendig sind. Es gibt keine guten oder schlechten Emotionen!
Reappraisal (Neubewertung): Hinterfrage negative Gedankenmuster und ersetze sie durch konstruktive Perspektiven.
Verhaltensänderung und Tools: Entwickle konkrete Schritte, um stressige Situationen anzugehen und nicht von Emotionen überwältigt zu werden. Tiefe, bewusste Atemzüge beruhigen das Nervensystem und helfen, impulsive Reaktionen zu verhindern. Nutze auch weitere Möglichkeiten um deinen Vagusnerv zu stimulieren und dich runter zu regulieren.
Quellen:
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